Spiegel Special 2002-1 - Experiment Europa.pdf

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HAUSMITTEILUNG
W
enn Regierungschefs einen Zeitschriftenbeitrag schreiben
sollen, ist meistens die Stunde der Ghostwriter gekommen.
Als der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude
Juncker, 47, zusagte, für die SPIEGEL-Serie „Woher kommt
Europa?“ die Epoche der europäischen Vereinigung nach
1945 zu schildern, war das anders. Die Pressestelle durfte zwar Bücher und
Material heranschaffen, doch dann griff der Chef selbst zu Füllfederhalter und
weißem Bogen. Juncker, seit 1995 an der Spitze des kleinen Großherzogtums,
hat einen Teil der EU-Geschichte selbst miterlebt als Minister unter seinem
Vorgänger Jacques Santer, einem herausragenden Europa-Politiker. Für den
Juncker (M.) mit EU-Regierungschefs (2000), Van Miert
SPIEGEL vergrub Juncker sich auch in Literatur-Quellen über die Frühzeit der
Einigungsbemühungen und fand Bemerkenswertes heraus, etwa dass Charles
de Gaulle im Kriegs-Exil weit glühender für ein vereintes Europa eintrat als
später im Amt des französischen Präsidenten.
Der Politiker als Autor ist die Ausnahme in der Serie, die nach der Ein-
führung der Euro-Scheine und -Münzen zeigen soll, wo die bis heute fortwir-
kenden Gemeinsamkeiten der europäischen Geschichte zu finden sind.
Führende Historiker schreiben über neue
Aspekte ihres Fachgebietes im Lichte der
europäischen Einigung; der Frankfurter
Professor Johannes Fried, 56, etwa ent-
mystifiziert die Europa-Vaterfigur Karl
den Großen. Der Berliner Theologie-Pro-
fessor Richard Schröder, 58, berichtet
über das gar nicht so finstere Mittelalter.
Der ehemalige Pfarrer hat immerhin eine
starke politische Ader: Er gründete nach der Wende die Ost-SPD mit und saß
für sie in der ersten und letzten freien Volkskammer.
Das SPIEGEL special „Experiment Europa“ ergänzt die historische Serie
um zahlreiche Beiträge zu den aktuellen Problemen der EU – vom ständigen
Ärgernis Agrarmarkt bis zur bevorstehenden Osterweiterung. SPIEGEL-Re-
dakteur Christian Habbe, 61, traf zum Beispiel an der künftigen Ostgrenze der
EU, dem Dreiländereck von Polen, Weißrussland und Litauen, die Bewohner
des Vielvölkergebiets Podlassien. Die seit Jahrhunderten in Freundschaft und
Streit Verbundenen fürchten nun, dass die Abschottung durch die EU die
gewachsenen Beziehungen durchschneidet: „Die Grenze ist unser Leben“,
sagt eine Kleinhändlerin aus Grodno. 1300 Ki-
lometer westlich, in Brüssel, nennt auch ein aus-
gewiesener Kenner der EU-Interna „den Gang
der Dinge bei der Osterweiterung Besorgnis
erregend“. Der ehemalige Wettbewerbskommis-
sar Karel Van Miert, 60, gibt sich im SPIEGEL-
Gespräch mit den Redakteuren Sylvia Schrei-
ber, 45, und Michael Schmidt-Klingenberg, 55,
unverblümter als zu seinen Amtszeiten: „Die
Probleme, die der Beitritt von zehn Staaten mit
sich bringt, wurden verheimlicht.“
Fried
S P I E G E L
S P E C I A L
SERGIO PEREZ / REUTERS
1/2002
FRITZ STOCKMEIER / ARGUM
WIM VAN CAPPELLEN / REPORTERS
3
INHALT
SEITE 66
Europas Kultur
Im Zeitalter der Aufklärung entwickelte Europas
Elite eine universale Kultur – geprägt von elegan-
ter Lebensart und einem neuen Wertesystem.
AKG
SEITE 24
Karl der Große
Den Vätern der Europäischen Union galt er
als Vorreiter einer Einigung des Kontinents.
Doch den Kaiser interessierte nur die Macht.
FULVIO ZANETTINI / LAIF
AKG
SEITE 12
Europas Wurzeln in der Antike
Die Griechen übten zum ersten Mal Demokratie, die Römer versuchten sich als Herrscher
der damaligen Welt. Kritisches Denken und moderne Wissenschaft nahmen in Rom
und Athen ihren Anfang. Vor drei Jahrtausenden wurde das Fundament Europas gelegt.
EUROPAS FERNE FUNDAMENTE
Auf der Suche nach der europäischen Identität
.....................8
Christian Meier über das Erbe der Antike
...........................12
KARL, DER GROSSE EUROPÄER?
Johannes Fried über die Verklärung Karls
des Großen zum Vater Europas
..........................................24
DAS EUROPA DES GEISTES
Richard Schröder über das mittelalterliche
Europa zwischen Papst und Kaiser
.....................................36
DAS EUROPA DES HANDELS
Wolfram Bickerich über die erste Globalisierung –
Hanse und Handel im Mittelalter
.......................................46
DAS EUROPA DER STAATEN
Hagen Schulze über die Entstehung der europäischen
Staatenvielfalt
....................................................................56
EUROPAS IDEEN FÜR DIE WELT
Robert Darnton über die weltweite Wirkung der
europäischen Aufklärung
...................................................66
DER EUROPÄER NAPOLEON
Dieter Wild über das europäische Imperium des
Korsen Napoleon
...............................................................76
DAS EUROPA DER KRIEGE
Karl Schlögel über das Jahrhundert des Imperialismus
und des Militarismus
..........................................................86
1/2002
6
S P I E G E L
S P E C I A L
SEITE 76
Halbgott Napoleon
Den ganzen Kontinent wollte er nach seinem System ordnen –
und beherrschen. Doch seine Maßlosigkeit und Despotie förderten
den Nationalismus in den anderen Ländern.
AKG
SEITE 86
Das Zeitalter der Gewalt
Wie ein dreißigjähriger Krieg prägten Schlachten und Eroberungs-
züge die Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das
imperiale Europa zerstörte sich am Ende selbst.
SEITE 130
Brüsseler Imperialismus
Mit einem Wust kaum durchschaubarer Regeln greift
die EU-Verwaltung in den europäischen Alltag ein. Der Sitz der
EU-Kommission ist ein lohnendes Feld für Lobbyisten.
SEITE 122
Die neue Grenze
Mit den Beitrittsländern erhält Europa einen historischen Kulturmit-
telpunkt zurück. Im Osten Polens wird die künftige Grenze
aufgerüstet – als Bollwerk gegen die Organisierte Kriminalität.
DAS EUROPA DER EUROPÄER
Jean-Claude Juncker über den schwierigen Prozess der
europäischen Einigung
..........................................................96
FOTO-REPORTAGE
Zwölf junge Europäer porträtieren sechs Länder auf
dem Weg in die EU
..............................................................106
DIE OSTERWEITERUNG
Christian Habbe über Europas alte Mitte
................................
118
Wie die neue europäische Ostgrenze aufgerüstet wird
..........
122
WIRTSCHAFTSMACHT EUROPA
Sylvia Schreiber über Stärken und Schwächen
der europäischen Union
......................................................126
S P I E G E L
DIE MACHT DER EUROKRATEN
Gunther Latsch über die Brüsseler Bürokratie
....................130
Die Erlebnisse einer EU-Praktikantin
..................................134
DER EUROPÄISCHE AGRARMARKT
Ulrich Koester über den drohenden Kollaps
der EU-Subventionswirtschaft
.............................................137
EUROPA – VISION UND WIRKLICHKEIT
SPIEGEL-Gespräch mit Karel Van Miert über nationalen
Egoismus und Gerhard Schröders Europapolitik
..................142
Hausmitteilung
.................................................................3
Buchtipps/Impressum
....................................................146
TITELBILD:
AKG (6); ARGUM; BPK; BECKER & BREDEL/ULLSTEIN BILD; DPA; GAMMA/STUDIO X
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PIOTR GESICKI / FORUM
PAUL HAHN / LAIF
GHS-ARCHIV
Europas Erbe: So fern, so nah
Mit dem Euro macht die Europäische Union einen weiteren wichtigen Schritt
zur Einigung des lange Zeit zerstrittenen Kontinents. Nun soll aus drei Jahrtausenden
wechselvoller Geschichte eine neue europäische Identität entstehen.
Euro-Illumination am Pont Neuf in Paris, Satellitenbild von Europa bei Nacht:
Gemeinschaftsgefühl durch Gemeinschaftsgeld
D
8
er Geldsegen kam von ganz oben.
Die Einführung des Euro, sprach
Papst Johannes Paul II. am
Neujahrstag 2002, sei das „Erreichen eines
historischen Ziels“. Die neue Währung ist
nicht nur in den zwölf Mitgliedsländern
des Euro-Verbandes, sondern auch im Va-
tikanstaat in Umlauf. Aus dem – auch für
Latein programmierten – Geldautomaten
der kirchlichen Bank kommen die neuen
Scheine ebenso frisch wie fast überall im
Euroland. „Frieden und Wohlstand“
wünschte der Papst den Europäern mit
dem Gemeinschaftsgeld.
Geistlicher Beistand in der Bewäh-
rungsprobe kann nicht schaden. Die Ein-
führung einer gemeinsamen Währung in
Europa ist eine Jahrtausend-Aufgabe. Die
großen europäischen Herrscher versuch-
ten alle, eine einheitliche Währung in
S P I E G E L
S P E C I A L
ihrem Machtbereich durchzusetzen. Der
Grieche Alexander der Große führte mit
der aus Athen stammenden Drachme eine
Währung ein, die in der gesamten damals
bekannten Welt galt. Der Römer Caesar
konnte in seinem Reich der Sesterze all-
gemeine Geltung verschaffen. Der Dena-
rius Karls des Großen überdauerte im-
merhin mehrere Jahrhunderte, verlor al-
lerdings immer mehr an Wert, weil die
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