ZEIT Wissen 2015 06.pdf

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ZEIT WISSEN
DAS NEUE JETZT
4 196700 205909
06
NR. 06
Oktober
November 2015
Blech und Ordnung
Das selbstfahrende Auto
und die Justiz
INTERVIEW
ZUM BESTSELLER
Der unsichtbare Mensch
Quantenphysiker
entwickeln die Tarnkappe
DIE
WEISHEIT
DES
WALDES
Mir geht’s gut
Positive Nebenwirkungen
von Krankheit
5,90 EURO 
Österreich, Benelux, Italien, Spanien, Portugal, Frankreich 6,40 € — Schweiz 10,90 sfr
Die neue Wahrnehmung der Gegenwart
JETZT.
Wie wir dabei unser
Glück im Blick behalten
EDITORIAL
GRUSS VON DER TEGERNSEER HÜTTE
Die gute Laune des Vaters war unerträglich. Und sie war nicht
echt, jede Wette. Sein frisch rasiertes Gesicht, sein rotes Hemd,
sein Pfeifen – eine Zumutung. Samstagmorgen, fünf Uhr, noch
finster draußen, finster auch drinnen: Der Junge, ich, wollte
schlafen, dann Fußball spielen, dann schwimmen. Aber der Vater
hatte Bergschuhe an, mit Schuhbandösen aus Eisen. Und ein Ziel
vor Augen, das sich in 1650 Meter Höhe befand, in einer Scharte
zwischen zwei Felsen. Die Tegernseer Hütte liegt in den bayerischen Alpen, der Weg
dorthin steigt hinauf durch den Wald, dann über die Sonnbergalm, dann in einen mit
Drahtseil befestigten Klettersteig. Man würde nach Stunden tot oben ankommen und
nach einer Ewigkeit noch toter wieder unten aufschlagen, so viel war klar. In den Knien
und im Hirn nur die eine Frage: Warum muss ich mir das antun?
In diesem Heft, liebe Leserin und lieber Leser, beginnen wir mit einer neuen Rubrik, die
bei Ihnen vielleicht dieselbe Frage auslöst. Manchmal ist der Weg zur Erkenntnis eben
beschwerlich, da nützt auch kein Pfeifen. Man braucht feste Schuhe und muss durch-
halten. »Die Zumutung« beginnt auf Seite 73, zeigt den Berg als Symbol und führt Sie
beim ersten Mal in die steilen Hänge der Sprachwissenschaft. Am Gipfel, so hoffen wir,
hat man etwas verstanden, vielleicht auch über sich selbst. Mein Vater und ich hatten
damals einen unvergessenen Tag. Ich war später noch oft dort oben auf der Tegernseer
Hütte. Und will bald wieder hin.
Andreas Lebert,
Chefredakteur
Fotos
Vera Tammen; Hartmut Nägele; Privat
AUS DER REDAKTION
Christian Schwägerl
setzt sich seit Jahren mit der
geologischen Zeitrechnung auseinander. In unserer
Titelgeschichte widmet er sich jedoch einem Thema,
das im maximalen Kontrast zu den Jahrmillionen
der Erdgeschichte steht: der Flüchtigkeit des Augen-
blicks und dem Glück der Gegenwärtigkeit (S. 28).
Titelfoto
Jay Blakesberg / Gallerystock
Hartmut Nägele,
Fotograf aus Düsseldorf, war froh,
mal aus der Stadt zu kommen. Er reiste in die Eifel,
um den Urwald von Peter Wohlleben zu fotografieren.
Nachdem er vom Bestsellerautor gelernt hatte, wie
lange Bäume brauchen, um groß zu werden, begeg-
nete er dem Wald mit ganz neuem Respekt
(S. 42).
INHALT
GESUNDHEIT &
PSYCHOLOGIE
UMWELT &
GESELLSCHAFT
FORSCHUNG &
TECHNIK
Die andere Seite
der Krankheit  S. 52
Das Geheimnis
der Bäume  S. 42
Die Schuld
des autonomen Autos  S. 58
6
Am Anfang drei Fragen
12
Der Optimist
20
Der unsichtbare Mensch
Gibt es böse Vorahnungen?
Funktionieren Witze auf der ganzen
Welt gleich? Wie durchbricht man
seine eigenen Muster?
40 Das Experiment
Über Wut und Hass im Internet
14
Geordnete Verhältnisse
Heimweh kennt jeder.
Aber was ist das eigentlich?
50
42
ZEIT WISSEN-GESPRÄCH
Die Weisheit des Waldes
Quantenphysiker entwickeln
die Tarnkappe – Teil 2 der
ZEIT Wissen-Serie »Gestern Science-
Fiction, heute Forschung«
Das gute Bild
Der verlorene Brief
52
Mir geht’s gut
Neues aus der Welt der Fotografie
58
Der Richter und sein Lenker
Nicht nur Medikamente haben
Nebenwirkungen, auch Krankheiten.
Manchmal sogar positive
78
Mein Leben, dein Leben
Der Förster Peter Wohlleben
hat Erfolg als Baumversteher
70
Die Erde ist wunderschön
Wenn Autos autonom fahren:
Wer ist dann schuld,
wenn sie einen Unfall bauen?
62
Der Held war eine Scheibe
Wenn wir andere Menschen
beobachten, probieren wir im Geiste
ihre Leben aus wie neue Kleider
98
Die Kleinigkeit des Seins
84
Arbeitsunterlage
Aus Analog wird Digital – gibt
es da heute noch Verluste?
73
DIE ZUMUTUNG
Sprache gibt es nicht
Nehmen Flüchtlinge uns Jobs weg?
86
Kluge Stube
Drei Experten erzählen,
wie sie Menschen davon abhalten,
sich das Leben zu nehmen
Ein Psychologe, eine Architektin und
ein Ingenieur machen sich Gedanken
über das Smart Home von morgen
Manches Wissen wächst in verdammt
hoch gelegenen Gebieten. Diesmal:
Auf dem Pfad der Linguistik
Fotos
Thomas Rusch; Hartmut Nägele
Auch wenn es wärmer wird. Eine
neue Sichtweise des Klimawandels
Illustration
Alessandro Apai
RUBRIKEN
3
16
18
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104
106
Editorial
U-Acht
Ü-Achtzig
Bücher
On_Off
Apps
Die beste Erklärung
Impressum
Die Welt aus der Sicht …
UNSERE
RECHERCHE-
QUELLEN
Studien, Bücher, Artikel,
Dokumente – die Quellen, die
wir für unsere journalistischen
Recherchen genutzt haben,
finden Sie online unter
www.zeit-wissen.de/0615quellen
zu folgenden Texten:
TITEL
Die ganze Welt
singt und tanzt für mich
28
Das Jetzt im Hypertakt
Das Jetzt im Hypertakt
Das Experiment
Mir geht‘s gut
Der Richter
und sein Lenker
Der Held
war eine Scheibe
Die Zumutung
Kluge Stube
Es gibt nichts Wertvolleres, als einen Moment ganz bewusst
zu erleben – und zwar glückliche als auch weniger schöne.
Doch immer mehr Menschen möchten dieses besondere »Jetzt«
festhalten, zum Beispiel mit der Kamera des Smartphones.
Um etwas zu bewahren. Um Glück und Leid mit anderen
zu teilen. Geht dabei etwas verloren? Was gewinnen wir, wenn
unsere flüchtige Gegenwart Teil eines großen Jetzt wird?
AM ANFANG DREI FRAGEN
1. Gibt es böse
Vorahnungen?
Fällt der Dax? Droht uns ein Erdbeben?
Was in der Zukunft passiert, wissen jene
als Erste, die vor der Gegenwart leben
Text
Marlene Staib
Foto
Dan Forbes
emand träumt davon, dass einer geliebten Per-
son etwas zustößt – und zwei Tage später wird
sie überfallen. Plötzlich haben wir das Gefühl,
dringend jemanden anrufen zu müssen, mit
dem wir lange nicht mehr geredet haben – und
just in dem Moment hat derjenige einen Un-
fall. Manchmal ist es auch nur ein mulmiges Gefühl im
Bauch, das uns vor einem schlimmen Erlebnis zu war-
nen scheint. Fast jeder Zweite hatte schon einmal einen
Traum, der die nahe Zukunft voraussagte, berichtet
eine britische Studie. Wie ist das möglich?
1997 machte der Psychologe Dean Radin ein auf-
sehenerregendes Experiment, das dieser Frage nachge-
hen sollte. Testpersonen bekamen in zufälliger Reihen-
folge zwei Arten von Bildern gezeigt: ruhige und
emotional aufwühlende mit erotischen oder gewalttä-
tigen Motiven. Währenddessen wurden ihr Herzschlag
und die Leitfähigkeit ihrer Haut gemessen, die zu-
nimmt, wenn wir schwitzen, und die so ein Anzeichen
für emotionale Reaktionen ist. Dabei stellte Radin fest:
Nicht nur während und nach, sondern auch kurz vor
der Präsentation emotionaler Bilder stiegen diese Sig-
nale leicht an. Daraus schließt er, dass Vorahnungen
oder eher ein gewisses Vorgefühl, das zukünftige Ge-
fühlszustände vorausdeutet, existieren könnte.
Problematisch ist an solchen Experimenten, dass
man bei Wiederholungsversuchen selten zu denselben
Ergebnissen kommt. Dick Bierman zum Beispiel, Psy-
chologe und Physiker an der Universität Amsterdam,
hat in seinen Studien zum »Presponse-Effekt« (aus
pre,
vor, und
response,
Reaktion) genauso viele positive wie
negative Befunde gesammelt. Außerdem halten sich die
Effekte in Grenzen: die gemessene Presponse ist schwach,
tritt nur in einem bestimmten Zeitfenster auf und bleibt
im Bereich des Unbewussten. Andere Forscher gehen
J
davon aus, dass die gemessenen Reaktionen gar keine
Vorahnungen sind. Vielmehr fänden sie im eigentlichen
Jetzt statt – wobei das, was wir »Jetzt« nennen, diesem
hinterherhinkt. Das heißt: Während unser Hirn unbe-
wusst bereits Eindrücke sammelt und Handlungen vor-
bereitet, kommt das Bewusstsein darüber stets ein paar
Sekunden später. »Vorahnungen« wären somit ein Ne-
benprodukt der Art und Weise, wie das Gehirn arbeitet:
erst unbewusst, danach bewusst. Für diese These spre-
chen Experimente, in denen die Hirnaktivität im Zu-
sammenhang mit Entscheidungen untersucht wurde:
Bis zu zehn Sekunden, bevor wir eine Entscheidung
bewusst »treffen«, können Hirnströme gemessen wer-
den, die die dazugehörige Handlung »vorhersagen«.
Die meisten übersinnlichen Erfahrungen sind aber
wohl dem Zufall geschuldet, dessen Wahrscheinlichkeit
wir notorisch unterschätzen. Nach dem »Gesetz der
großen Zahlen« werden selbst sehr unwahrscheinliche
Ereignisse bei einer hohen Anzahl an Ziehungen immer
wahrscheinlicher. »Wenn sieben Milliarden Menschen
sich jede Nacht auch nur an einen Traum erinnern, sind
das schon sieben Milliarden Träume«, sagt Chris French,
Psychologe an der Goldsmiths-Universität in London,
»gruselig wäre es, wenn davon keiner mit einem zu-
künftigen Ereignis übereinstimmt.« Ein weiterer Faktor
seien unterbewusst wahrgenommene Eindrücke. French
ließ Testpersonen am Computer Karten »vorhersagen«.
Was die Teilnehmer nicht wussten: Vor der Hälfte der
Karten erschien für kurze Zeit das richtige Kartensym-
bol. Menschen mit einer hohen »Transliminalität« – der
Fähigkeit, sich unterbewusste Informationen bewusst zu
machen – errieten in diesen Fällen häufiger die richtige
Karte. Hätte French sie nicht über den Trick aufgeklärt,
sie hätten sich vielleicht für Hellseher gehalten.
Lesen Sie dazu auch: »Und jetzt alle!«, Seite 28
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