ZEIT Wissen 2015 01.pdf

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ZEIT WISSEN
LIEBE & SCHWERKRAFT
5,90 EURO 
Österreich, Benelux, Italien, Spanien, Portugal, Frankreich 6,40 € — Schweiz 10,90 sfr
NR. 1
Dezember 2014
Januar 2015
SPURENSICHERUNG
Was vom
Menschen bleibt,
wenn er geht
WISSENSCHAFT
SERVICE
Einkaufen
mit gutem
Gewissen
15
Tipps für das
besondere
Weihnachtsgeschenk
RAUCHEN AUFHÖREN
Motivation auf einer
Zigarettenlänge
DIE LIEBE,
DIE SCHWERKRAFT
UND WIR
Die mächtigsten Anziehungskräfte der Welt
sind bis heute unberechenbar. Gott sei Dank?
4 196700 205909
01
EDITORIAL
DIE LIEDERLICHKEIT DES GUTEN
Foto
Vera Tammen; Elliott Erwitt/Magnum Photos/Agentur Focus; Privat
Wenn es regnete, ging die Schnecken-Oma mit den Kindern nach
draußen und sammelte Schnecken. Danach veranstaltete sie in
einem Karton Schneckenrennen. So kam sie zu ihrem Namen. Ich
habe die Schnecken-Oma nie kennengelernt, es gab sie schon
nicht mehr, als ich zur Welt kam. Aber meine Mutter hat viel von
ihr erzählt, vor allem von ihrer Klugheit. Einen ihrer Sätze hatte
sie aufgeschrieben und im Kinderzimmer aufgehängt: »Zu gut – das ist ein Trumm der
Liederlichkeit.« Das bayerische Wort Trumm bezeichnet ein schweres, sperriges Stück.
Es dauert ein bisschen, bis sich die Bedeutung des Satzes der Schnecken-Oma ganz
ausgebreitet hat im Bewusstsein. Dann aber bleibt sie dort hängen. Bei Menschen, die
nie Fehler machen, immer nur gut sind, vor allem im moralischen Sinn, die ihr Gutsein
wie ein Spruchband in die Luft halten, muss ich bis heute denken: Liederlich sind
diese Menschen. Der Duden sagt: »unsolide, nicht gewissenhaft, ungenau, verdorben«.
Diese Erkenntnis bleibt von der Schnecken-Oma. Ihre Worte haben sich mir eingeprägt
und mich nie verlassen, obwohl ich ihr nicht einmal selbst begegnet bin.
»Was von uns bleibt – wenn wir einen Ort verlassen, einen Menschen – und schließlich die
Welt« ist das Thema des Dossiers in diesem Heft. Liebe Leserin und lieber Leser, nehmen
Sie sich Zeit für eine mikroskopische und philosophische Spurensicherung, die Sie be-
rühren wird – und gut passt in diese Wochen mit den Festen Weihnachten und Silvester.
Andreas Lebert,
Chefredakteur
AUS DER REDAKTION
Elliott Erwitt
hat die Fotografien für unsere Titel-
geschichte über die Liebe und die Schwerkraft
aufgenommen. Erwitt, ehemaliger Präsident der Foto-
agentur Magnum, wurde durch seine Schwarz-Weiß-
Fotostrecken bekannt, deren Sujets er oft in den
Straßen der Großstadt fand. Er ist heute 86 Jahre alt.
Titelfoto
Robert Whitman/www.thelicensingproject.com
Ulf Schönert
hat für ZEIT Wissen schon oft über
neue Entwicklungen in Fotografie und Technik
geschrieben. Von dieser Ausgabe an betreut er die
Rubrik DAS GUTE BILD, wo er über Fototechnik,
Ausstellungen, Apps, Künstler und Bücher rund um
die Fotografie berichtet (Seite 80).
INHALT
UMWELT &
GESELLSCHAFT
FORSCHUNG &
TECHNIK
GESUNDHEIT &
PSYCHOLOGIE
Macht Besitz glücklich?
Ein Gespräch  S. 68
Richtig einkaufen?
Eine Recherche  S. 88
Was bleibt von uns?
Eine Spurensuche  S. 44
6
Drei Fragen
36
ZEIT WISSEN-GESCHENKTIPPS
44
Innovationen, Zubehör und Technik:
Neues aus der Welt der Fotografie
82
Die dunkle Seite der Smartphones
55
On_Off
56
Die Welt verbessern.
Schon wieder? Gern!
Die Digitalisierung bringt
neue Redewendungen hervor
62
Das Experiment
Mit Mut, neuen Ideen und dem
ZEIT Wissen-Nachhaltigkeitspreis.
Die ersten drei Nominierten
68
DAS ZEIT WISSEN-GESPRÄCH
Schuldkomplex des Kapitalismus
Cyberkriminelle und Industrie-
spione können auf unsere Daten
zugreifen. Wann werden Handys
endlich abhörsicher?
86
Arbeitsunterlage
Die Wärme der Erinnerung
64
Einfach ausgedrückt
Die Kulturwissenschaftlerin
Christina von Braun über Besitz
94
Kann jeder zum Terroristen
werden? – »Ich hoffe doch«
88
Von Chefs und Kollegen,
von Geld und Glück
Was sollen wir kaufen?
Das passiert mit Ihrem Körper,
wenn Sie jetzt mit
dem Rauchen aufhören!
104 Optimisten und Pessimisten
Ein Interview mit dem Psychiater
und ehemaligen CIA-Mitarbeiter
Marc Sageman
Bewusster Konsum soll die Welt
verändern. Doch wie trifft
man die richtigen Entscheidungen?
Die ZEIT Wissen-Faustregeln
Die Selbstvermessung des
eigenen Körpers ist der neue Trend.
Schöne Aussichten?
Wir haben unsere Leser gefragt
Fotos
Laurent Chehere; Ailara Berdyyeva
Illustration
Alessandro Gottardo
Was geschieht mit unserer Seele,
wenn wir den Körper verändern?
War das Leben vor 100 Jahren ein-
facher oder komplizierter als heute?
Macht gutes Essen glücklich?
Was Forscher und Wissenschaftler
zu Weihnachten verschenken
80
Das gute Bild
DOSSIER:
Was von uns übrig bleibt
Wenn wir einen Ort verlassen,
einen Menschen oder gar die
Welt – niemals gehen wir so ganz
RUBRIKEN
3
12
16
18
96
100
101
103
106
Editorial
Magazin
U-Acht
Ü-Achtzig
Bücher
Gadgets
Apps
Rätsel/Impressum
Die Welt aus der Sicht …
UNSERE
RECHERCHE-
QUELLEN
Studien, Bücher, Artikel,
Dokumente – die Recherche-
quellen, die wir für unsere
journalistische Arbeit genutzt
haben, finden Sie online unter
www.zeit-wissen.de/0115quellen
zu diesen Texten:
Drei Fragen
Die Schwerkraft und die Liebe
Der ZEIT WISSEN-Wunschzettel
Dossier:
Was von uns übrig bleibt
Was sollen wir kaufen?
Die dunkle Seite
der Smartphones
Fotos
Elliott Erwitt/Magnum Photos/Agentur Focus
TITEL
Die Schwerkraft,
die Liebe und wir
20
Das Schicksal des Staubkorns – zu schwer zu verstehen?
Jeder Kellner, der ein Tablett balanciert, jedes Kind, das auf
einen Stuhl klettert, jeder Stern, der verglüht – alle sind wir
Gefangene der Schwerkraft und können ihr nie entkommen
30
Ein Lächeln, und die Welt wird neu erschaffen
Der Blick im Café, der Satz am Telefon – niemand kann vor-
hersagen, wann Liebe entsteht. Auch nicht die Wissenschaft
AM ANFANG DREI FRAGEN
1. Was geschieht mit
unserer Seele, wenn wir
den Körper verändern?
Tattoos gehen tiefer unter die Haut als gedacht
Text
Ulrike Meyer-Timpe
Foto
Warwick Saint
A
nfang März, wenn draußen die Krokusse
blühen, wird es bunt in der Pariser
Grande Halle de la Villette. Weit über
hundert Künstler zeigen ihre Kreationen
und lassen sich bei der Arbeit zusehen.
Sie erschaffen Adler und Engel, indische
Gottheiten und Fantasy-Monster, Ornamente und Kal-
ligrafien. Ihre Leinwand ist der Mensch. Parallel zur
Mondial du Tatouage
adelt eine Ausstellung ihre Zunft.
Längst arbeiten die Tätowierer nicht mehr nur im Sou-
terrain, sie sind in der Beletage angekommen.
Früher dokumentierten Tattoos die Zugehörigkeit
zu speziellen Gruppen. Häftlinge, Zuhälter, hartgesot-
tene Seeleute ließen sich tätowieren. Heute lassen sich
Männer und Frauen aus allen Schichten Bilder in die
Haut stechen. Meist sind sie auf der Suche nach Schön-
heit – und stolz auf die Werke, die ihren Körper zieren.
Schönheit bietet eine natürliche Überlegenheit.
Das stellte bereits der griechische Philosoph Platon fest.
Zwar ist dabei die Ausstrahlung mindestens so wichtig
wie die naturgegebenen Voraussetzungen – eine glück-
liche Seele strahlt und nimmt andere für sich ein –, doch
gerade das könnte dazu führen, dass Tattoos ihren
Zweck erfüllen. »Die Leute fühlen sich mit Tätowie-
rungen attraktiver«, sagt Erich Kasten, der Psychologie
an der Hamburger University of Applied Sciences lehrt
und zu Body Modifications forscht. Insofern kann ein
Tattoo die Seele stärken. Und noch etwas stabilisiert wo-
möglich die Psyche: Dass sie die Angst vor der schmerz-
haften Prozedur überwunden haben, festigt bei vielen
Menschen das Selbstwertgefühl. Aglaja Stirn von der
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hat in einer
Studie festgestellt, dass sich Körperschmuckträger häufig
für besonders stark halten. Zudem glaubten sie häufiger
als andere, dass man mit ihrer Arbeit zufrieden sei. Wer
sich ein Motiv in die Haut stechen lässt, verleiht seinem
Körper eine individuelle Note. Wer hingegen statt ins
Tattoo-Studio zum plastischen Chirurgen geht, möchte
sein Äußeres den gängigen Vorstellungen von Attrakti-
vität anpassen. Gemeinsam ist beiden, dass sie auf der
Suche nach dem, was sie für schön halten, ihren Körper
verändern und Schmerzen in Kauf nehmen. Und dass
sie damit ihrer Psyche womöglich Gutes tun. Eine Studie
von Jürgen Margraf, Professor an der Ruhr-Universität
Bochum, hat die psychologischen Effekte von Schön-
heitsoperationen untersucht: Auch ein Jahr nach der OP
zeigten die Patienten mehr Lebensfreude, Zufriedenheit
und Selbstwert als die Vergleichsgruppe, die sich gegen
einen Eingriff entschieden hatte.
Manchmal allerdings nimmt die Seele Schaden,
wenn wir unseren Körper verändern. Das gute Gefühl,
das die vermeintlich gewonnene Attraktivität bewirkt,
kann süchtig machen. Prominente wie Donatella Versace
wurden zur Karikatur. Und aus manch kleinem Tattoo
entsteht im Lauf der Jahre eine Ganzkörper-Illustration,
deren Wirkung fatal sein kann. Erich Kasten kennt einen
ehemaligen Schausteller, dem das jede Chance auf einen
anderen Job geraubt und eine Depression beschert hat.
Selbst kleine Tattoos lassen sich oft nicht mehr entfernen,
wenn man sich eines Tages für sie schämt und sie plötz-
lich das Selbstwertgefühl untergraben.
Zudem stehen dem seelischen Gewinn medizini-
sche Risiken gegenüber. »Auch wenn der Laser die Tat-
toos unsichtbar machen kann, bleiben die zerkleinerten
Farbpartikel im Körper«, sagt Kasten. »Wir wissen nicht,
ob sich die toxischen Substanzen dann in der Leber oder
den Lymphknoten ablagern.« Und wir wissen auch
nicht, wie Freunde und Fremde auf ein Tattoo reagieren.
Welche Blicke ernten wir für Anker, Flammengötter
und Schlümpfe? Das ist unberechenbar.
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