Freikörperkultur und Nackterziehung - Online-Publikation 2006 von Prof Dr Karl-Heinz Ignatz Kerscher.pdf

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Freikörperkultur und Nackterziehung
Online-Publikation 2006
Von
Prof. Dr.
Karl-Heinz Ignatz Kerscher
Die Ursprünge der Freikörperkulturbewegung
Die Freikörperkultur-Bewegung entstand im deutschsprachigen Raum vor mehr
als 100 Jahren. Sie entstand nicht als isoliertes Einzelphänomen, sondern im
Kontext der Lebensreformbewegung. Die damalige Lebensreformbewegung
strebte eine Erneuerung der gesamten Lebensführung auf den Gebieten der
Ernährung ( Vegetarismus ), der Kleidung, der Wohnung, der Gesundheits- und
Körperpflege ( Ablehnung von Alkohol-, Rauschmittel- und Tabakkonsum ) an.
In Anlehnung an naturheilkundliche ( z.B. Pfarrer Kneipp ) und
naturphilosophische Konzepte ( z.B. ROUSSEAU ) wird der nackte Körper als
natürlichster Ausdruck der Körperlichkeit wiederentdeckt und dem
unbekleideten Baden in Licht, Luft und Sonne eine gesundheitsfördernde
Wirkung zugeschrieben.
Die Verfechter der vor dem Ersten Weltkrieg als Nacktkultur bezeichneten
Freikörperkultur werten Nacktheit zur sittlichen und „natürlichen“ Lebensweise
auf. Damit kehren sie die Vorwürfe der Anhänger des prüden Puritanismus, sich
gegen Sittlichkeit und Moral zu versündigen, auf provokative Weise ins
Offensive um. Nacktheit wird als Mittel der Befreiung von einer prüden,
Verklemmungen und Neurosen erzeugenden Zwangsmoral einer krankhaften
Gesellschaft propagiert. Nacktkultur versteht sich als ein gesellschaftspolitisches
und kulturreformerisches Konzept, das Gesellschaftsveränderung durch
Lebensreform von der Basis der Subjekte aus anstrebt. Bestandteile der
Nacktkultur als Weltanschauung sind die freiwillige Selbstverpflichtung zu einer
naturgemäßen Lebensweise mittels Vegetarismus, Rauschmittel- und
Genussmittel-Abstinenz, Bescheidenheit in Kleidung und Lebensführung,
Betonung von künstlerischer und kunsthandwerklicher Aktivität, von
Dichtkunst, Musik und Tanz, aber auch Wanderungen, Bewegung und Turnen.
Die Nacktkulturbewegung nimmt die Einflüsse der Jugendbewegung und des
Wandervogels auf. Allerdings finden sich auf dem Hintergrund der Rezeption
der Lehre Charles DARWINs und des Sozialdarwinismus in der
Nacktkulturbewegung auch eugenische und rassenhygienische Zielvorstellungen
zur „Formung eines gesunden Volkskörpers“, die später zur Zeit der
nationalsozialistischen Terrorherrschaft zu unmenschlichen Konsequenzen wie
zur Euthanasie Behinderter, zu Kriegsverbrechen und zum Holocaust an den
Juden führte ( Vgl. MÖHRING 2004).
Künstler und Lebensreformer DIEFENBACH und FIDUS
Im Rückblick auf die Entstehung der FKK-Bewegung wird der Maler und
Naturapostel Karl Wilhelm DIEFENBACH (1851-1913) an erster Stelle
genannt. DIEFENBACH wurde 1851 in Hessen-Nassau als Sohn eines
Kunstmalers geboren. Durch ein Stipendium konnte er an der Akademie für
schöne Künste in München studieren. Eine Krankheit war Anlass, seine
Lebensweise zu ändern. Er wurde Vegetarier und zog in einen Steinbruch im
Isartal. In Höllriegelsgereuth entstanden Bilder wie „Du sollst nicht töten!“,
„Frage an die Sterne“ oder „Unschuld“.
Er hatte drei Kinder, Helios, Stella und Lucidus, die er in freier Natur nackt
umherlaufen ließ und in seinen Bildern malte, eine skandalöse Provokation in
der damaligen puritanischen Zeit. Auf Betreiben gegnerischer Kreise wurden
ihm die Kinder von staatlicher Seite wegen sittlicher Gefährdung
weggenommen. 1888 entstand der berühmte 68 Meter lange Schatten-Fries mit
34 Tafeln „ Per aspera ad astra“ ( „ Durch den Staub zu den Sternen“ ), den sein
Schüler Hugo HÖPPENER ( Künstlername: FIDUS ) nach DIEFENBACHs
Anleitungen realisierte. Dieser Fries ist das bekannteste Werk DIEFENBACHs.
DIEFENBACH feierte Erfolge als Künstler in Wien. Seine Kinder durften
nunmehr wieder bei den Eltern wohnen. Er lebte unter anderem am Gardasee, in
Ägypten und 13 Jahre auf Capri, wo er 1913 starb. Seine Urne wurde in Rom
beigesetzt ( Vgl. PFITZNER 1964).
Der DIEFENBACH- Schüler Hugo HÖPPENER ( 1868-1948 ) nannte sich
FIDUS, der Getreue. Er wurde 1868 in Lübeck geboren und studierte an der
Kunstakademie in München, wo er DIEFENBACH und den Theosophen
HÜBBE-SCHLEIDEN kennen lernte. FIDUS übernahm die naturgemäße
Lebensweise
von
DIEFENBACH
und
theosophische
Gedanken
von
HÜBBESCHLEIDEN.
Bekannt wurde FIDUS vor allem durch seine zahlreichen
Buchillustrationen, Vignetten und Exlibris, im Jugendstil gezeichnet. Unter den
von FIDUS geschaffenen Gemälden und Zeichnungen finden sich zahlreiche
Darstellungen des nackten menschlichen Körpers. Sein Bild „ Lichtgebet “ galt
als ein Aufbruchzeichen der Freikörperkultur-Bewegung, die sich damals auch
Lichtbewegung nannte.
Die Bezeichnung Lichtfreunde geht historisch gesehen
auf Anhänger HEGELs zurück, die Zweifel an der Göttlichkeit Christi
anmeldeten, den sie zwar als großen weisen Menschheitslehrer, aber eben nur
als Menschen ansahen (Vgl. REICHENBACH-ILLING, F.W.: Die historischen
Lichtfreunde, In: Der Sonnenmensch-Helios. Linz. Heft 46, 7. Jahrgang, 1956
S. 2 ). Durch den Leib-Seele-Dualismus des Christentums und den Puritanismus
des Viktorianischen Zeitalters galt Nacktheit des menschlichen Körpers als
sündhaft. Die bildende Kunst und die Naturismusbewegung bildeten einen
Gegensatz zur Prüderie der christlichen Kirchen, indem die Schönheit und
Ästhetik des nackten menschlichen Körpers bejaht wurden.
Unter den Gemälden von FIDUS finden sich zahlreiche Darstellungen des
nackten Körpers: „Frühlingsodem“, „Sonnenwanderer“, „Die Erde“,
„Erwachender Morgen“ oder „Tröstender Schoß“. Obwohl sich im Werk FIDUS
leider auch gewisse völkische Tendenzen finden, haben die Nationalsozialisten
seine Bilder abgelehnt und sein öffentliches Wirken gedrosselt. Der Künstler
FIDUS starb mit 80 Jahren in Woltersdorf östlich von Berlin.
Nacktkultur, Lebensreform und Körperkult
Ein weiterer Pionier der Naturismusbewegung in Deutschland war Dr. Heinrich
PUDOR (1865 – 1943). PUDOR studierte in Leipzig und Heidelberg Musik,
Philosophie, Kunstgeschichte und Archäologie. Als Cellist musizierte er unter
anderem als Berufsmusiker in Leipzig, Glasgow und Petersburg. PUDOR war
außerdem Maler und ein vielseitiger Schriftsteller mit Publikationen über Musik,
Kunstästhetik, Religion und Lebensreform. 1890 trat er in den „Dresdner
Wochenblätter“ erstmalig für Nacktturnen ein und verwendete den Begriff
„Nacktkultur“. PUDORs Intentionen umfassten auch den Vegetarismus und die
Kleidungsreform. 1893 schrieb er in seinem Buch „ Nackende Menschen“ :
„ Wir wollen es nicht leugnen: ein nackender Mensch ist für die Menschen
u n s e r e r Zeit eine Geschmacklosigkeit und wirkt wie ein Schlag ins Gesicht
– so unnatürlich sind wir geworden.“ ( PUDOR, H.: Nackende Menschen,
Leipzig 1893, S. 17). In der wilhelminischen Kaiserzeit herrschte eine Prüderie,
die den Frauen knöchellange Röcke und hochgeschlossene Kleider, typisch als
Wespentaillen-Mode, selbst in der warmen Sommerzeit vorschrieb. Die
Verfechter der Nacktmoral wollten den Menschen aus dem engen Korsett
gesellschaftlicher Zwänge befreien und überhöhten die Nacktheit zum reinen
Lichtkleid.
Nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs erfährt die Naturismusbewegung
unter dem Namen „Freikörperkultur“ einen großen Aufschwung. Mehr und
mehr Sonnenfreunde praktizieren unbekleidetes Baden und Leben als
undogmatische, ideologiefreie Freizeitbewegung. Die Freikörperkultur wird zu
einer Massenbewegung, die zum Ende der Weimarer Republik vor der
Machtergreifung der Nazis mehr als 100.000 organisierte aktive Mitglieder in
zahlreichen Vereinen umfasst. Die Ziele der Freikörperkultur werden in
Büchern, Magazinen, in Lichtbildern und Filmen publiziert. In Zeitschriften wie
„Die neue Zeit“, „Lachendes Leben“ , „Kraft und Schönheit“ , „Der
Lichtfreund“ oder „Die Schönheit“ wird für den von Kleidern befreiten
Lebensstil geworben. So vielgestaltig das politische Spektrum in der Weimarer
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